Tarifflucht höhlt soziale Marktwirtschaft aus.
Löhne und Gehälter werden in Deutschland – mit Ausnahme des Mindestlohns – nicht gesetzlich sondern überwiegend kollektivvertraglich und in Tarifpartnerschaft ausgehandelt. Nur 30 Prozent der westdeutschen Beschäftigten hatten 2000 kein tariflich geregeltes Beschäftigungsverhältnis, im Osten waren es 45 Prozent, zum Vergleich: 1998 waren es im Westen 24 Prozent und im Osten 37 Prozent. Diese Tarifpartnerschaft, als Ordnungspolitischer Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, verliert jedoch seit Jahren, wie die Zahlen beweisen, immer mehr an Bedeutung. In Westdeutschland sind bereits 43 Prozent und in Ostdeutschland schon 56 Prozent (2017) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne Tarifvertrag beschäftigt. Das die tarifliche Bindung weiter abnimmt, hat auch damit zu tun, dass das Bewusstsein für die Vorteile gewerkschaftlicher Organisation und damit der Organisationsgrad gesunken ist. Damit verbunden ist nicht nur eine schwächere Durchsetzungskraft von Arbeitnehmerinteressen in den einzelnen Betrieben, sondern auch bei Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen. Beispielhaft dafür ist der Ausstieg der Metro Tochter „real“, aus dem Arbeitgeberverband. Es ist naiv von Seiten der Arbeitgeber zu glauben, durch Tarifflucht tatsächlich mehr Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Auf diesem Weg werden die Sozialpartnerschaft und das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ausgehöhlt.
Auswirkungen dieser Entwicklung Seit Jahren klagen Unternehmen über den Fachkräftemangel und zu wenige Auszubildende, daher sind attraktive Arbeitsbedingungen und faire Löhne – ausgehandelt von den Tarifparteien – unerlässlich. Nicht selten sind die Folgen von Tarifflucht schlechtere Arbeitsbedingungen, prekäre Beschäftigungsformen und Leiharbeit. Um auf schwankende Marktbedingungen reagieren zu können, nutzen viele Betriebe Leiharbeit und Werkverträge. Dieses Instrument ist nicht selten das Einfallstor für Dumpinglöhne und schlechtere Arbeitsbedingungen. Das hat soziale und wirtschaftliche Folgen für den einzelnen Menschen, aber auch für unsere Gesellschaft. Nur starke Betriebsräte und ausgehandelte Tarifverträge zwischen den Tarifpartnern, haben das Potenzial, dem nachhaltig und effektiv zu begegnen. Altersarmut bekämpfen In den letzten Jahren ist die Kaufkraft der Rentnerinnen und Rentner dramatisch gesunken. Ein großer Teil dieser Menschen ist bereits heute auf staatliche Grundsicherung angewiesen und die Tendenz ist steigend. Laut der NGG sind 45000 Menschen im Kreis Siegen-Wittgenstein aktuell von Altersarmut betroffen. So wie sie heute arbeiten, bekämen sie laut Aussage der NGG nur eine Rente unterhalb der staatlichen Grundsicherung. Und das, wenn sie nach 45 Berufsjahren in den Ruhestand gingen. Das sind 33 Prozent der Beschäftigten im Kreis Siegen-Wittgenstein. Sollte das Rentenniveau ab 2030 auf 43 Prozent sinken, wird die Zahl der armutsgefährdeten Rentner künftig noch weiter ansteigen. Wer nach jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit in Rente geht, darf nach dieser Lebensleistung nicht in der Altersarmut enden. Stattdessen muss diesen Menschen ein würdevoller Ruhestand gewährleistet werden. Faire Löhne und Gehälter sorgen dafür, dass niedrige Renten und Altersarmut nachhaltig verhindert werden.
Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass die gesetzliche Stärkung des Instruments der Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine realistische Möglichkeit wäre, um die fortschreitende Tarifflucht zu stoppen. Allen sollte auch bewusst sein, das im Niedriglohnsektor keine hohen Renten zu erwarten sind. Gerade in Branchen wie dem Gastgewerbe, dem Bäckerhandwerk, dem Einzelhandel und der Gebäudereinigung müssen Beschäftigte im Alter ihre Rente aufstocken. Besonders Frauen sind davon häufig betroffen, da gerade sie in Teilzeit oder Mini-Jobs arbeiten. Viele dieser Beschäftigten können sich auch keine zusätzlichen Beiträge zu einer Zusatzvorsorge (z.B. Riesterrente) leisten, da sie mit jedem Cent rechnen müssen. Die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder substanziell gestärkt werden. Es ist anzustreben, dass das Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung mittelfristig wieder deutlich über 50 Prozent liegt. Der Staat muss die gesetzliche Rente sichern auch über das Jahr 2030 hinaus, da alle Beschäftigten auf sie angewiesen sind. Aber auch die Arbeitgeber sollten und müssen mehr tun bei Löhnen, Arbeitszeiten und der Zusatzvorsorge, damit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Lebensabend im Alter genießen können.